Wie kann ich mich ändern?/Mit Christus vereint
Aus Biblische Bücher und Predigten
Von Robin Boisvert
Über Heiligung und Wachstum
Kapitel 3 des Buches Wie kann ich mich ändern?
Übersetzung von Kerstin Braun
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„Alle, die mit Ärger zu kämpfen haben, mögen bitte nach vorn kommen. Wir möchten für euch beten.“
Es war Sonntagmorgen. Ich hatte soeben meine Predigt über Ärger beendet und wollte dem Heiligen Geist Gelegenheit geben, in den Herzen der Anwesenden zu wirken. Doch die Reaktion war für mich nicht vorherzusehen.
Etwa zwanzig demütige Heilige kamen im Auditorium nach vorn – eine große Schar für eine Kirche unserer Größe. Und dennoch war es nicht die Anzahl, die meine Aufmerksamkeit erregte. Es waren die Menschen selbst. Neunzehn der Zwanzig waren Mütter kleiner Kinder! (Ärger ist nach Aussage der meisten Mütter, die ich bisher kennen gelernt habe, eine Art Berufskrankheit.)
Als ihr Pastor kannte ich all diese Frauen als ernsthafte und engagierte Christinnen. Was sie veranlasste, nach vorn zu kommen, war ihre große Frustration über die Lücke, in der sie gefangen waren – eine Lücke zwischen der biblischen Norm der Selbstbeherrschung und ihrem eigenen Versagen, dieser Norm gemäß zu leben.
Ob das Problem nun Ärger oder Furcht, Sorge, oder etwas so Häufiges wie Faulheit ist: Wir haben alle schon diese Lücke verspürt zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein sollten. Die Bibel sagt, wir seien neue Schöpfungen, Sieger, Überwinder. Und wir sind nicht nur Überwinder – wir sind mehr als Überwinder (Röm 8,37). Manchmal fühlen wir uns sogar so. Meistens jedoch fällt es uns schwer, über unsere Grenzen und unser ständiges Versagen hinaus zu sehen. Und es scheint, dass genau in diesen Zeiten des Lebens Matthäus 5,48 in unserem Bibelleseplan auftaucht: „Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist."
Leise seufzen wir und denken, das wird nie passieren.
Ich nenne diesen Gemütszustand die „Tücke der Lücke“. Und zwar funktioniert das so: Als Christen wissen wir alle in einem gewissen Maße, was Gott von uns erwartet. Doch wir erreichen weniger, als was wir wissen erreichen zu sollen. Es klafft eine Lücke zwischen dem, wovon wir wissen, dass es erforderlich ist, und unserer tatsächlichen Leistung. Wenn der Abstand zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir leben, zu groß wird, dann kann man uns mit Recht Scheinheilige nennen.
— Jay Adams
Diese Lücke ist eine Tatsache des christlichen Lebens. Die meisten von uns muss niemand über unsere Widersprüchlichkeiten aufklären – sie sind uns allen nur allzu bewusst. Ein solches Bewusstsein dürfte dazu dienen, dass wir bescheiden und in Bezug auf Erfolg abhängig von Gott bleiben. Doch die Lücke entsteht oft durch unsere Unkenntnis der Lehre der Heiligung. Statt zu erkennen, dass die Lücke dazu da ist, uns in inbrünstigem Vertrauen auf Christus voranzutreiben, lassen wir zu, dass sie uns verdammt und unser Voranschreiten aufhält. Wir verfangen uns in dem Denken, dass wir nur Verlierer, Versager, Taugenichtse seien ... und womöglich noch nicht einmal Christen. Manche verfallen sogar in Untätigkeit oder Ungehorsamkeit. Alle, die der Tücke dieser Lücke in die Falle gehen (und in gewissem Maße tun wir das alle) leiden unnötig unter Entmutigung.
Als Pastor ist es eine meiner Hauptaufgabe, Einzelnen aus der Falle der Lücke zu helfen. Ich sage den Menschen oft: „Das wird nicht plötzlich geschehen, und es wird ernsthafte Anstrengungen erfordern; doch aus der Falle der Lücke zu gelangen, ist nicht kompliziert. Und glauben Sie mir, die Mühe wird sich lohnen.“
Vielleicht sind Sie selbst der Tücke der Lücke schon einmal in die Falle gegangen. Vielleicht sind Sie jetzt gerade in dieser Situation. Falls dem so ist, dann sind wir überzeugt davon, dass dieses Buch Ihnen helfen kann, die Lücke zwischen dem, der Sie in Christus sein sollten, und dem, der Sie in Wirklichkeit sind, zu schließen.
Können Sie sich ein Leben vorstellen, in dem Sie mit sündhaften Gewohnheiten brechen und in der Frömmigkeit echte Fortschritte machen? Ein solches Leben ist möglich. Und dieses Buch wurde geschrieben, um Ihnen zu helfen und Ihnen Mut zu verleihen, wenn Sie daran arbeiten, sich dieses Leben zu Eigen zu machen.
Inhaltsverzeichnis |
Zwischen dem „Jetzt“ und dem „Noch nicht“
Ohne Frage gehört der scheinbare Gegensatz zwischen dem, was Gott uns zu sein zählt, und dem, von dem wir selbst aus Erfahrung wissen, was wir sind, zu zum Frustrierendsten im christlichen Leben. Nehmen wir zum Beispiel die Korinther. An einer Stelle versicherte Paulus ihnen: „Ihr seid abgewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerechtfertigt worden durch den Namen des Herrn Jesus und durch den Geist unseres Gottes.“ (1 Kor 6,11). Das klingt wie ein einfacher Fall, nicht wahr? Bis man dann Paulus’ zweiten Brief an diese Kirche liest, in dem er fast das Gegenteil zu sagen scheint: „So wollen wir uns reinigen von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes und die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes.“ (2 Kor 7,1).
Ich vermute, die Korinther waren einigermaßen verwirrt. Waren sie denn nun geheiligt ... oder befleckt? Eigentlich waren sie beides, und wir sind es auch. Um dies zu erklären, möchte ich kurz abschweifen.
Gottes Reich ist sowohl „Jetzt“ als auch „Noch nicht“. Es ist in gewisser Hinsicht Gegenwart und in anderer Hinsicht Zukunft. Unser Herr kam und kündigte an und zeigte, dass das Reich (oder die Herrschaft) Gottes die menschliche Geschichte gekreuzt hatte: „Wenn ich aber durch den Finger Gottes die Dämonen austreibe, so ist also das Reich Gottes zu euch gekommen.” (Lk 11,20). Jedoch hat sich Gottes Reich noch nicht erfüllt. Das geschieht erst, wenn Jesus in der Macht zurückkehrt, wenn jedes Knie sich beugen und jede Zunge bestätigen wird, dass er der Herr ist. Bis dahin beten wir inbrünstig, ohne die gegenwärtige Wirklichkeit von Gottes Reich zu verleugnen: „Dein Reich komme" (Mt 6,10).
In dieser Hinsicht gleicht Gottes Reich sehr unserem eigenen Leben. Gott hat uns durch das wunderbare Werk der Rechtfertigung für gerecht erklärt. Unser gesetzlicher Status vor ihm hat sich verändert. Diese Frage wurde im Hohen Gericht des Himmels geklärt. Auf dieser Seite der Himmels jedoch ist unsere innere Wandlung ein fortlaufendes Projekt. Der Prozess der Heiligung beschäftigt mich persönlich als Christ immer weiter und sorgt für reichlich Arbeit für mich als Pastor.
Haben wir nun den Sieg in Jesus errungen oder nicht? Überwinden wir, oder werden wir überwunden? Oscar Cullmann bietet eine Analogie aus dem Zweiten Weltkrieg an, die uns meiner Meinung nach helfen kann, diesen scheinbaren Gegensatz zu begreifen.<ref>Oscar Cullman, Christ and Time (Philadelphia, PA: The Westminster Press, 1964), S. 3.</ref>
Die Geschichte verzeichnet zum Ende des Zweiten Weltkrieges zwei wichtige Tage: D-Day und VE-Day. Der D-Day war der 6. Juni 1944, als die Streitkräfte der Alliierten an der Küste der französischen Normandie landeten. Das war der Wendepunkt des Krieges; als diese Landung erfolgreich abgeschlossen war, war Hitler Schicksal besiegelt. Der Krieg war im Grunde vorbei. Doch der vollständige Sieg in Europa (VE-Day) ereignete sich erst am 7. Mai 1945, als sich die deutschen Streitkräfte in Berlin ergaben. Diese Zeitspanne von elf Monaten wird als eine der blutigsten des Krieges erinnert. Offene Feldschlachten wurden überall in Frankreich, Belgien und Deutschland geschlagen. Obwohl der Feind tödlich verwundet worden war, unterlag er nicht sofort.
- John Piper
Das Kreuz war unser D-Day. Hier starb der Herr Jesus Christus, um die Ketten der Sünde von seinem Volk abzuschlagen. Auf der Grundlage Seines Todes und Seiner Auferstehung sind wir gerechtfertigt. Doch der endgültige Sieg wartet auf Christi Wiederkehr. Über den Ausgang der Dinge gibt es keinen Zweifel. Doch wir werden uns immer noch in Gefechte und Kämpfe verwickelt finden, bis der Herr in Herrlichkeit erscheint, um die Mächte der Finsternis für immer zu bezwingen.
Diese Unterscheidung kann uns, wenn wir sie im Kopf behalten, eine Menge Entmutigung ersparen. Die Schlacht tobt noch, doch der Krieg ist bereits gewonnen. Ein Bewusstsein für das abgeschlossene Werk Christi um Unsertwillen ist grundlegend wichtig für die Moral, wenn wir nach Heiligung streben. Wir müssen die große Lehre der Rechtfertigung studieren und darüber meditieren, bis sie sich tief in unser Bewusstsein senkt.
Mundwasser gefällig?
Obwohl wir in Christus vollständig gerechtfertigt sind (D-Day), sind wir keineswegs vollständig geheiligt (VE-Day). Manche haben dies nicht verstanden.
Der Bibellehrer Ern Baxter berichtet von einem Vorfall während der „Spätregen-Erweckung“ Ende der 1940er Jahre. Es war eine irrgläubige Lehre unter dem Namen „The Manifest Sons of God” [etwa: Offenbarte Söhne Gottes - A.d.Ü.] ausgekommen. Dies war im Grunde eine Lehre, die die völlige Heiligung in diesem Leben versprach. In ihrer extremen Form beinhaltete sie den Glauben daran, dass eine geistliche Elite verherrlichte Körper vor Christi Wiederkehr erhalten werde.
Gegen Ende einer Versammlung, auf der Baxter predigte, erschienen mehrere „Offenbarte Söhne“ (und Töchter) in weiße Gewänder gehüllt hinten im Auditorium. Als er seine Rede beendete, eilten sie durch den Gang in der Kirche nach vorn und versuchten, Anhänger für ihre Lehre der absoluten Vollkommenheit zu gewinnen. Er berichtet darüber: „Die Dame, die sie anführte, hätte dringend Mundwasser gebraucht. Das ist nicht die Vollkommenheit, die ich anstrebe.“ <ref>Ern Baxter, Tonbandaufzeichnung, “Sanctification,” n.d. </ref>
Häufiger als Ern Baxters Szenario sind Situationen, die sich aus einer oberflächlichen, vereinfachten Sicht der Heiligung ergeben.
❏ Niemals auch nur einen Stundenkilometer schneller als erlaubt zu fahren
❏ Jedem Telefonverkäufer, der anruft, mit Wärme und Freundlichkeit zu begegnen
❏ Alle unnötigen Kalorien zu vermeiden
❏ Nie den Schlummer-Knopf an Ihrem Wecker zu drücken
❏ Stets fröhlich die Einkommenssteuer zu zahlen.Als ich neu zum Glauben gekommen war, traf ich einen jungen Mann namens Greg, ein erklärter Einbrecher und Drogensüchtiger, der anscheinend im Gefängnis bekehrt worden war. Ich war beeindruckt, wie Greg sein christliches Leben im Griff hatte. Seine Haltung war von stolzer Sicherheit erfüllt und sein Gang hatte etwas Großspuriges. Er sprach, als sei die Sünde für ihn kein wirkliches Problem mehr. Mehr als einmal erzählte er mir, wie er „gerettet, geheiligt und mit dem Heiligen Geist erfüllt“ worden war.
Wenn man seinen Beschreibungen zuhörte, dann schien das alles so einfach. Als frischgebackener Christ war er eines Tages in einen Zug gestiegen, und als er Stunden später wieder ausstieg, hatte er gehabt, was er als ein „Heiligungserlebnis“ bezeichnete. Er versicherte mir, dass eine solche Erfahrung ein notwendiger Auftakt für die Taufe im Heiligen Geist war, und wenn das geschehen war, dann war man bereit.
Ich muss zugeben, es gab ein paar Dinge an Greg, die nicht besonders heilig erschienen. Er hatte einen Hang zu werten und eine pharisäerhafte Haltung. Er konnte anmaßend und kleinlich sein. Ich erinnere mich an seine ungehaltenen Bemerkungen, als ein Freund versehentlich etwas auf seine Bibel stellte: „Entschuldige mal – das ist zufällig das Wort Gottes!“ Trotzdem konnte er immer noch aus der Bibel zitieren und schien etwas von dieser Sache der Heiligung zu verstehen.
Welch ein Schock, als er wieder harte Drogen verkaufte und auch selbst nahm.
Zu Gregs Problemen gehörte ein unvollständiges und daher unrichtiges Verständnis der Lehre der Bibel über Heiligung. Er hatte das getan, was so viele tun, indem er sich nur auf diese günstigen Texte der Schrift konzentrierte, die seine persönlichen Erfahrungen zu bestätigen schienen.
— Adrian Rogers
Die Heiligung ist sowohl endgültig (indem sie bei der Bekehrung geschieht) als auch fortschreitend. Sie geschah nicht bei einem Erlebnis in der Vergangenheit, und man darf auch nicht denken, dass sie nur schrittweise geschieht. Wir wurden geändert und wir ändern uns. Ohne die Begeisterung unserer erfolgreichen Landung in der Normandie zu dämpfen, wollen wir nüchtern und realistisch den Gegner bewerten, der zwischen uns und Berlin liegt. Wir haben nicht die Möglichkeit, einen Heiligungszug zu besteigen, wie Greg von sich behauptete. Jeder Schritt wird ein Kampf sein.
Die Mühe wert
Für viele ist „Heiligung“, "Sanktifikation", nur wieder eines dieser seltsamen theologischen Wörter, die man oft hört, doch kaum versteht. Es klingt gelehrt und theoretisch. Und doch ist es äußerst praktisch. Die Lehre von der Heiligung gibt Antwort auf Fragen, die von fast jedem Christen in der Geschichte der Kirche gestellt wurden und werden:
Wie ändere ich mich?
Wie wachse ich?
Wie werde ich wie Christus?
Wie entkomme ich der Tücke der Lücke?
Alles, was Antwort auf diese Fragen geben kann, ist einige Mühe wert. Anhang A (Seite 93) zeigt, wie verschiedene Zweige der Kirche mit diesem Problem in der Vergangenheit umgegangen sind; wir wollen jetzt schauen, was wir über diese grundlegende Lehre in ihrer Anwendung auf uns heute lernen können.
— J.C. Ryle
Die biblische Bedeutung des Wortes heiligen ist „aussondern; weihen”. (Die englischen Begriffe sanctification und holiness entstammen derselben griechischen Wurzel.) Es kann auf Personen, Orte, Anlässe oder Gegenstände angewendet werden. Wenn etwas geheiligt wird, wird es vom allgemeinen Gebrauch ausgesondert und besonderem Gebrauch geweiht. Beispielsweise wurde zu Zeiten Mose der Versöhnungstag ausgesondert (geheiligt) für einen heiligen Gott. Dieser Tag wurde zu einem heiligen Tag. Ein geheiligter Gegenstand wird nicht dadurch heilig, dass er ausgesondert wird; er bezieht seine Heiligkeit aus dem, wessen er zugewidmet wird. Da nur Gott heilig ist, kann allein er Heiligkeit verleihen.
Theologisch wurde der Begriff „Heiligung“ verwendet, um den Prozess zu beschreiben, den ein Glaubender durchläuft, wenn der Geist Gottes in ihm wirkt, um ihn Christus gleich zu machen. Der Prozess beginnt in dem Augenblick, in dem wir wiedergeboren werden und setzt sich fort, so lange wir leben. Er ist von täglichem Konflikt gekennzeichnet, während wir uns die Gnade und Kraft Gottes aneignen, um die uns innewohnende Sünde zu überwinden.
Denken Sie daran, dass die Schuld der Sünde bereits durch Rechtfertigung weggenommen wurde, wie Anthony Hoekema darlegt; Heiligung entfernt die Verschmutzung durch die Sünde:
Mit Schuld meinen wir den Zustand, in dem jemand Verdammnis oder eine Strafe verdient, weil Gottes Gesetz verletzt wurde. In der Rechtfertigung, die ein feststellender Akt Gottes ist, wird die Schuld unserer Sünde auf der Grundlage des versöhnenden Wirkens Jesu Christi hinweggenommen. Mit Verschmutzung meinen wir die Verderbtheit unseres Wesens, die das Ergebnis der Sünde ist und die wiederum neue Sünde hervorbringt. Im Ergebnis des Sündenfalls unserer ersten Eltern werden wir alle in einem Zustand der Verderbtheit geboren; die Sünden, die wir begehen, sind nicht nur Produkte dieser Verderbtheit, sondern verstärken diese noch. Bei der Heiligung befindet sich die Verschmutzung durch die Sünde in einem Prozess der Entfernung (allerdings wird sie bis zum kommenden Leben nicht vollständig entfernt).<ref>7. Anthony A. Hoekema, Saved by Grace (Grand Rapids, MI: Eerdmans Publishing Co., 1989), S. 192-93.</ref>
Die Bibel beschreibt Heiligung auch als Wachsen in der Frömmigkeit. Mit Frömmigkeit meine ich eine Hingabe an Gott und den Charakter, der aus einer solchen Hingabe entspringt. Frömmigkeit beinhaltet eine Liebe zu Gott und ein Verlangen nach Gott. <ref>Jerry Bridges, The Practice of Godliness (Colorado Springs, CO: NavPress, 1983), S. 15-20.</ref> Sie beinhaltet auch die Furcht vor Gott, die John Murray als die „Seele der Frömmigkeit“ bezeichnet hat. [5] Nachdem er von der Furcht vor ewiger Pein erlöst wurde, fürchtet der Christ Gott, indem er sich nicht auf dessen Zorn konzentriert, sondern auf seine „Majestät, Heiligkeit und Erhabanheit …“ <ref>Ibid., p. 24.</ref> Die Furcht vor dem Herrn hat eine reinigende Wirkung auf das Herz und ist eine Voraussetzung für eine innige Verbindung mit Gott.
Frömmigkeit umfasst mehr als Moralität oder Eifer. Sie entspringt einer Einheit mit Christus und einer Leidenschaft, ihn zu ehren. Ein frommer Mensch möchte sein wie sein Herr, zu seinem Wohlgefallen. Er möchte fühlen, was Gott fühlt, ihm seine Gedanken nachdenken und seinen Willen ausführen. Kurz gesagt, er möchte den Charakter Gottes annehmen, damit Gott verherrlicht werde. Keine Anstrengung ist unsere lebenslange Bemühungen mehr wert: „Denn die leibliche Übung ist zu wenigem nütze, die Gottseligkeit aber ist zu allen Dingen nütze, weil sie die Verheißung des Lebens hat, des jetzigen und des zukünftigen.” (1 Tim 4,8).
Sowohl Gott als auch der Mensch spielen die Hauptrollen im gnädigen Wirken der Heiligung. Er initiiert durch seine erstaunliche Gnade unsere Errettung und verleiht den Wunsch und die Kraft, die Sünde zu überwinden. In der Reaktion und im Sich-Verlassen auf seine Gnade befolgen wir dann den biblischen Befehl: „Bewirkt euer Heil mit Furcht und Zittern, denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken zu seinem Wohlgefallen.“ (Phil 2,12-13).
— J.I. Packer
Das Neue Testament zeichnet einen Weg für frommes Leben vor, der eine mittlere Ebene (eigentlich eine höhere Ebene) zwischen Legalismus, Werkgerechtigkeit, einerseits und Handlungsfreiheit andererseits darstellt. Kirchentraditionen, die zu starkes Gewicht auf Gottes Wirken in uns gelegt haben, ohne zu erwarten, dass dieses Wirken zu einem wachsenden Verlangen nach Frömmigkeit führt, schwenken vom Weg zur Handlungsfreiheit ab: „Denn viele wandeln, von denen ich euch oft gesagt habe, nun aber auch mit Weinen sage, dass sie die Feinde des Kreuzes Christi sind: deren Ende Verderben, deren Gott der Bauch und deren Ehre in ihrer Schande ist, die auf das Irdische sinnen.“ (Phil 3,18-19). Auf der anderen Seite haben manche die Rolle des Menschen derart betont, dass sie Technik über Gottes Wahrheit stellen und bei Werkgerechtigkeit enden (Es gibt natürlich unterschiedliche Abstufungen dieser Abweichungen.).
Wie man Vollkommenheit erlangt
Eine häufige Frage, die ich oft von Christen höre, ist diese: „Was kann ich erwarten, wie weit dieser Prozess der Heiligung gehen kann? Werde ich je völlig frei von Sünde sein?“ Diese Frage wird besonders relevant, wenn man eine Aussage wie die des Paulus an die Kirche der Philipper liest: „So viele nun vollkommen sind, lasst uns darauf bedacht sein! Und wenn ihr in irgendetwas anders denkt, so wird euch Gott auch dies offenbaren.“ (Phil 3,15). Jesus brachte dies in einem zuvor zitierten Vers noch deutlicher auf den Punkt: „Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ (Mt 5,48).
(Antworten auf dem Kopf stehend unten auf Seite 9)
• Das Wort „heiligen“ bedeutet „auseinanderreißen; entweihen.” T F
• Heiligung beginnt in dem Augenblick, in dem man wiedergeboren wird, und setzt sich fort, solange man lebt. T F
• Die Schuld unserer Sünde wurde durch Rechtfertigung hinweggenommen. T F
• Frömmigkeit bezieht sich ausschließlich auf die Moralität und den Glaubenseifer eines Menschen. T F
• Gott trägt die alleinige Verantwortung für unsere Heiligung. T FErwartet Gott wirklich, dass wir Vollkommenheit erreichen?
Ein Verlangen nach Vollkommenheit hat viele dazu angeregt, nach Gott zu suchen. In der gesamten Geschichte der Menschheit haben Dichter und Philosophen dem Wunsch Ausdruck verliehen, eine verlorene Unschuld und Reinheit wieder zu erlangen. Die zeitgenössischen Songwriter Crosby, Stills, and Nash feierten das Erlebnis Woodstock mit einem Song, in dem es hieß: „Wir sind Sternenstaub, wir sind golden, wir sind gefangen im billigen Geschäft des Teufels. Und wir müssen uns zurück in den Garten befördern."
Das Dumme ist, wir sind alles andere als vollkommen, und wir wissen es. In der Scheinwelt des Kinos mag Mary Poppins sich fröhlich als „praktisch in jeder Hinsicht perfekt“ bezeichnen, doch im wirklichen Leben funktioniert das so nicht. Und wir werden Vollkommenheit ganz bestimmt nicht über Woodstock erreichen.
— Sinclair Ferguson
R. A. Muller betont, dass die Schrift uns klar anweist, vollkommen zu sein, während sie gleichzeitig Beweise liefert, dass Vollkommenheit in diesem Leben unerreichbar ist. <ref>R.A. Muller, The International Standard Bible Encyclopedia, Volume Four (Grand Rapids, MI: Eerdmans Publishing Co., 1988), S. 324.</ref> Damit sind wir in der Zwickmühle. Wir können nicht einfach die Hände heben und uns geschlagen geben. Ebenso wenig können wir gegenüber der Vollkommenheit eine „Can Do“-Haltung [etwa: „ich schaff das schon“ – A.d.Ü.] einnehmen, die mehr mit positivem Denken als mit der Bibel gemein hat. Die einzig Möglichkeit, dieses Dilemma aufzulösen, ist die Erkenntnis, dass das Neue Testament zwei Sichtweisen auf Vollkommenheit hat.<ref>William Hendriksen, New Testament Commentary: Philippians (Grand Rapids, MI: Eerdmans Publishing Co., 1962), p. 176.</ref>
Paulus’ Vision für die Philipper war Reife, nicht Tadellosigkeit. Beachten Sie, wie die New International Version seine Bemerkung an die Gemeinde der Philipper übersetzt: „Laßt uns denn, so viele von uns reif sind, diese Gesinnung haben.“ (Phil 3,15). Die „Vollkommenen“ in diesem Sinne können am besten beschrieben werden als „diejenigen, die in geistigem Wachstum und Stabilität beachtliche Fortschritte gemacht haben."
Es ist für jedes Kind völlig natürlich, groß und ganz erwachsen sein zu wollen. Dies gilt für den Gläubigen nicht weniger. Anstatt nun eine lässige oder planlose Haltung gegenüber dem Wachstum anzunehmen, sollten wir uns von dem Aufruf zur Vollkommenheit gemüßigt fühlen, ernsthaft danach zu streben, wie Jesus zu sein. Paulus selbst sollte uns allen als Beispiel dienen:
Nicht, dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollendet sei; ich jage [ihm] aber nach, ob ich es auch ergreifen möge, weil ich auch von Christus Jesus ergriffen bin. Brüder, ich denke von mir selbst nicht, [es] ergriffen zu haben; eines aber [tue ich]: Ich vergesse, was dahinten, strecke mich aber aus nach dem, was vorn ist, und jage auf das Ziel zu, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus. (Phil 3,12-14)
— Hugh Latimer
Wir finden eine zweite Verwendung des Wortes Vollkommenheit in Paulus’ erstem Brief an die Korinther. „Wenn aber das Vollkommene kommt“, so schreibt er, „wird das, was stückweise ist, weggetan werden.“ (1 Kor 13,10). In diesem Sinne ist Vollkommenheit ein Begriff, der zu Recht auf den dreieinigen Gott beschränkt ist – eine Vollkommenheit, die nicht erscheint, bis Christus wiederkehrt. Der Theologe Louis Berkhof zieht es vor, von Gottes Vollkommenheiten zu sprechen, statt von seinen Eigenschaften.<ref>Louis Berkhof, Systematic Theology (Grand Rapids, MI: Eerdmans Publishing Co., 1941), S. 52.</ref> Gott allein ist ohne Fehler. Wie sehr wir auch in diesem Leben reifen, werden wir doch nie Vollkommenheit erreichen, bis zu jenem Tag, an dem uns Gott in Herrlichkeit vervollkommnet.
Sieben Gründe, die Lücke zu schließen
Im Allgemeinen hat die Welt eine negative Sicht auf Heiligkeit. Viele setzen sie gleich mit einem verdrießlichen, sein Kreuz tragenden Dasein ohne Freude. Sie wird eher als eine pharisäerhafte Selbstgerechtigkeit angesehen, und nicht als die freudvolle Erfahrung, die sie eigentlich ist. Lassen Sie uns zum Abschluss diese Ansicht widerlegen, indem wir einige der vielen Vorteile und segensreichen Gaben betrachten, die uns aus der Nachfolge Christi erwachsen. Hier die sieben Früchte der Heiligung:
Gott wird verherrlicht. Wenn wir heilig sind, verleihen wir unserer Behauptung Gewicht, dass Gott so wirklich und so wunderbar ist, wie wir das von ihm sagen. Paulus sagt, dass die guten Taten von Christen die Lehre Christi zieren (Tit 2,10). Selbst diejenigen, die Gott verleugnen, müssen seine Wirklichkeit zugeben, wenn seine Nachfolger auf seinen Wegen wandeln.
Dauerhafte Gemeinschaft in diesem Leben mit dem dreieinigen Gott. Jesus spricht: „Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen.“ (Joh 14,23). Es ist eine enorme Freude und ein Trost, die bleibende Gegenwart des Vaters und des Sohnes durch den Heiligen Geist zu haben. Und Jesus deutet an, dass seine Gegenwart eine liebende Gegenwart ist, nicht gleichgültig oder unpersönlich. Natürlich bringt seine Gegenwart seine Macht mit sich, die uns befähigt, die Hindernisse des Lebens zu überwinden.
- John Piper
Gemeinschaft mit anderen Christen. Wenn wir in der Dunkelheit wandeln, können wir keine echten Beziehungen zu anderen Gläubigen haben. „Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, haben wir Gemeinschaft miteinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, reinigt uns von jeder Sünde.“ (1. Joh 1,7)
Der Herr verspricht, uns Begleiter, Mitreisende auf dem Weg zur Heiligung zu schicken. Ich für meinen Teil habe festgestellt, dass Gottes Wahrheit in Kombination mit dem Beispiel der Seinen Gottes absolut notwendig für mein geistliches Wachstum ist. Und wenn ich auf seinen Wegen wandelte, fehlte es mir an keinem von beidem. Wir brauchen einander im Kontext der Kirche, um es zu schaffen. Heiligkeit und christliche Gemeinde gehen Hand in Hand.
Gewissheit der Erlösung. Obgleich unsere Erlösung sich nicht auf unser Streben nach Heiligung gründet, ist die Gewissheit der Erlösung ganz sicher damit verbunden. In seinem zweiten Brief ermahnt Petrus seine Leser, jede Anstrengung zu unternehmen, um geistliche Tugenden anzusammeln, im Glauben die Tugend und in der Tugend die Erkenntnis, bis Enthaltsamkeit, Ausharren, Gottseligkeit, Bruderliebe und schließlich Liebe reichlich vorhanden sind (2 Petr 1,5-9). Wenn es an diesen fehlt, so warnt er, könnte der Mensch ...
… die Reinigung von seinen früheren Sünden vergessen. Darum, Brüder, befleißigt euch um so mehr, eure Berufung und Erwählung fest zu machen; denn wenn ihr diese Dinge tut, werdet ihr niemals straucheln. Denn so wird euch reichlich gewährt werden der Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus. (2 Petr 1,9-11)
Evangelisation. Als seiner Sünden überführter junger Mann versuchte ich mit aller Kraft, an Christen etwas auszusetzen zu finden, damit ich ihre Botschaft ablehnen und sie als Scheinheilige abtun konnte. Doch auch wenn sie nicht vollkommen waren, konnte ich keine bedeutenden Widersprüche feststellen. Die große Familie, die mich mit dem Evangelium zu erreichen suchte, hinterließ bei mir mit ihrer Lebensweise einen größeren Eindruck als mit ihren Worten. Der Ehemann liebte seine Frau, die Frau achtete ihren Mann, die Kinder gehorchten ihren Eltern, und alle waren fröhlich. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
Man sagt, dass die Welt vielleicht nicht in ihrer Bibel liest, aber ganz bestimmt in ihren Christen. Gott gebraucht heilige Menschen, um andere zu erreichen. Nicht vollkommene, sondern heilige.
Verständnis, Weisheit und Erkenntnis. Diese Schätze erwarten jene, die Gott von ganzem Herzen suchen. (Spr. 2,1-11). Dem Spötter, dem Aufrührer und dem Narren bleiben sie vorenthalten.
Gott schauen. In der Schrift heißt es: „Jagt dem Frieden mit allen nach und der Heiligung, ohne die niemand den Herrn schauen wird.“ (Heb 12,14). Während die volle Bedeutung dieser Stelle geheimnisumhüllt ist, hat die Schrift viel zu sagen über „die Gottesschau“, Gott zu schauen. Dies wird geschehen, wenn unser Herr wiedergekommen, jeder Feind bezwungen ist und wir vollständig geheiligt wurden. Zu dieser zeit wird unsere Anschauung Gottes dauerhaft uns intensiv sein, ohne Ablenkung oder durch Sünde verursachte Verlegenheit. Dann werden wir erkennen, wie auch wir erkannt werden. Nicht, dass unser Erkennen Gottes vollständig sein wird, denn er wird uns stets immer mehr seines unendlichen und wunderbaren Selbst enthüllen.
„Glückselig, die reinen Herzens sind“, so sagte Jesus, „denn sie werden Gott schauen.“ (Mt 5,8) Diese fortwährende Erhellung seiner Größe und Güte ist bei weitem das größte Wunder, das aus einem Leben in Heiligkeit entsteht.
Wie Sie sehen, gibt es eine Menge guter Gründe, die Lücke zwischen Gottes Erwartungen an uns und unseren eigenen Erfahrungen zu schließen. Wir sind dazu geschaffen, an seiner Heiligkeit teilzuhaben – nicht nur im Himmel, sondern hier auf Erden. Schritt für Schritt können wir lernen, die Sünde zu überwinden und ein Leben zu führen, das immer mehr die Herrlichkeit und das Wesen Gottes widerspiegelt.
In diesem ersten Kapitel haben wir versucht, Ihre Lust auf Frömmigkeit zu wecken. Mit Kapitel Zwei beginnen wir, den biblischen Rahmen zu errichten, der notwendig ist, um ein heiliges - und glückliches - Leben zu führen.
Gruppendiskussion
- Was für Symptome zeigen an, dass jemand in der „Tücke der Lücke“ gefangen ist?
- Eine gewisse Lücke zwischen Gottes Normen und unserem Verhalten ist unvermeidlich; ist sie allerdings zu groß, werden wir zu Scheinheiligen. Wo ziehen wir die Grenze?
- Inwiefern ist unsere Heiligung sowohl vergangene Geschichte als auch künftige Hoffnung?
- Die Furcht vor Gott, so sagt der Autor, sei eine „Voraussetzung für eine innige Beziehung mit Gott“ (Seite 7). Was meint er damit?
- In welchem Maße sollte ein gereifter Christ frei von Sünde sein?
- Wie würden Sie jetzt, nachdem Sie dieses Kapitel abgeschlossen haben, einem frischgebackenen Christen Matthäus 5,48 erklären?
Empfohlene Literatur
How to Help People Change von Jay E. Adams (Grand Rapids, MI: Zondervan Publishing House, 1986)
Saved by Grace von Anthony A. Hoekema (Grand Rapids, MI: Eerdmans Publishing Co., 1989)
Verweise
- ↑ Jay E. Adams, The Biblical View of Self-Esteem, Self-Love, Self-Image (Eugene, OR: Harvest House Publishers, 1986), p. 78.
- ↑ John Piper, The Pleasures Of God (Portland, OR: Multnomah Press, 1991), p. 147.
- ↑ Quoted in Gathered Gold, John Blanchard, ed. (Welwyn, Hertfordshire, England: Evangelical Press, 1984), p.146.
- ↑ J.C. Ryle, Holiness (Welwyn, Hertfordshire, England: Evangelical Press, 1879, reprinted 1989), p. 39.
- ↑ Ebd., S. 24.
- ↑ J.I. Packer, Concise Theology (Wheaton, IL: Tyndale House, 1993), p. 169.
- ↑ Sinclair Ferguson, A Heart for God (Colorado Springs, CO: NavPress, 1985), p. 129.
- ↑ Ziziert in Gathered Gold, S.148.
- ↑ Reference missing from original